Dienstag, 2. Februar 2021

Kleiner Lagebericht

 


„Mangelhaft“ – das steht auf der App meiner Fitness-Uhr, wenn ich auf das Schlafsymbol drücke. „Wenn Sie weniger als drei Stunden schlafen, kann ich Ihnen nichts über die Qualität Ihres Schlafes mitteilen“. Ach, wirklich? Brauchst Du auch nicht, doofe Uhr, wenn ich weniger als drei Stunden schlafe, dann weiss ich auch selber, wie mein Schlaf war – mangelhaft! Seit Wochen lief und läuft das so. Es gibt auf der Uhr keinen Modus „junge Mutter“ (wobei sich das „jung“ hier auf das Muttersein bezieht und nicht auf mein Alter) – das müsste man dringend ändern. 

Am 30. Dezember 2020 war mein Tag super organisiert: Mein Mann würde mit den Kleinen rausgehen, während ich in Ruhe duschen konnte – oh yeah!!! – gepackt für Sylvester bei den Schwiegereltern hatte ich schon, ich musste nur noch zur Post vor dem Mittagessen, easy-peasy. Bevor meine Jungs in den Park los gingen, bat ich meinen Mann, noch das Flusensieb der Waschmaschine zu reinigen – zum perfekten Plan des Vormittages gehörte noch die Tumbler-Wäsche, die genau zur Abfahrt fertig sein würde – frische „Nuschelis“ für den Kleinen, wohlriechende Wäsche, und ein biiiisschen vom schier exponentiell wachsenden Wäscheberg abtragen. Die Waschmaschine lief, ich putzte die Zähne, freute mich auf die Dusche. Bei Paul hatte ich mir das Mantra angewöhnt: „es ist ein guter Tag, wenn man die Zeit findet, zu duschen“. Bei Basti hatte ich dies irgendwie auf zwei bis drei Tage ausgedehnt. Wasser sparen und Lockdown – da kann man auch mal mehr Desodorant ranmachen. Um so mehr freute ich mich auf das warme Wasser. Aber während ich mich vom Surren der Elektro-Zahnbürste einlullen liess, hörte ich ein unheilvolles Plätschern. Oh nein. Die Waschmaschine lief aus. Und lief und lief und lief. Und während ich Handtuch um Handtuch auswrang, den Wischmob und einen Eimer holte, versuchte, die undichte Stelle zu finden, brach es aus mir heraus. Ich weinte, tobte, schrie, haute vor Verzweiflung auf den Boden. Der Tropfen, der mein 2020 Fass zum Überlaufen brachte, das war er. Ich konnte nicht mehr, es war zuviel. Nach 45 min putzen und heulen hatte ich die Maschine wieder unter Kontrolle und mich auch soweit, dass ich den Tag irgendwie fortsetzen konnte. Und während ich dann den Tag, die darauffolgende, sehr „mangelhafte“ Nacht und schlussendlich auch das Jahr 2020 hinter mich brachte, versuchte ich immer wieder, mal ein bisschen in mich zu gehen und herausfinden, was mich da so ausser Kontrolle gebracht hatte. Schliesslich musste ich doch eigentlich dankbar sein für unsere privilegierte Situation zuhause: Mann im Homeoffice, also eigentlich immer erreichbar, Babysitterin mehrmals die Woche zur Unterstützung, eine super schöne Wohnung und Umgebung. Und mein grösstes Glück, das am 8. Mai das Licht der Welt erblickt hatte – Bastian Raphael, der wunderbar gedeihte, lachte und sich in unserer Familie wohlfühlte. 


Ein neues Jahr begann, ein hoffnungsvoller Anfang, wir waren ja einfach Alle so froh, dass 2020 vorbei war. Und noch immer dauert die Hoffnung an. Es geht einfach nicht anders – ich kann nicht nicht hoffnungsvoll sein. Aber manchmal kommen sie wieder, die dunklen Wolken. Da Lesen im Moment überhaupt nicht drin liegt zeitlich, habe ich Hörbücher für mich entdeckt. Beim Spazieren, aufräumen, Haushalt geht das sehr gut. Das Buch, das ich am liebsten hörte in letzter Zeit, war „Familienkompass“ von Nora Imlau. Es geht dabei darum, dass man als Familie sich einen eigenen Nordstern sucht und sein Familienleben und den Umgang mit den Kindern danach richtet… Ich kann dieses Buch wirklich nur wärmstens empfehlen, da Nora Imlau auf sämtliche Guru-Attitüden verzichtet und auch immer wieder erzählt, wie sie selber an ihren guten Vorsätzen scheitert. Am meisten mochte ich am Buch den durch und durch wohlwollenden Ton – ich hatte das Gefühl, genau verstanden worden zu sein und kam nach jedem Spaziergang mit Basti in der Trage und Nora im Ohr gut gelaunt nachhause. Und was ich hörte, war vor allem eine Nachricht: „Du bist gut genug“. Und das ist etwas, an dem ich rumkaue und versuche, auf 2020 zu übertragen und in Zukunft anzuwenden. 


Jetzt sind wir schon im Februar, vor genau einem Jahr spielte ich mit dickem Bauch im Sadthaussaal Winterthur mein Schubert Programm, der Höhepunkt meiner Schubert Tournee in der Schweiz. Im Januar 2020 war die CD dazu herausgekommen und ich war so glücklich darüber. Auch über die Konzerte in der Schweiz und ganz besonders über den Abend in Winterthur. In jedem Ton war ich dabei, in jeder Melodie fand ich mich wieder, ich war eins mit der Musik, die mich durch tiefe Täler und Klangwelten führte, die ich nur bei Schubert finde. Ich war euphorisch nach der Tournee, super müde, aber voller Tatendrang. Mit Ideen für eine Konzertreihe, Plänen für einen Versand der CD an die Fachpresse, auch ein kleines Video Interview zur CD sollte es noch geben – und dann kam der Lockdown. Und anstatt wie viele Musiker-Kollegen sich mit plötzlich zu viel Zeit zuhause eine Challenge zu suchen, war ich plötzlich eine hochschwangere Vollzeit-Mama eines Zweijährigen – denn die grösste Veränderung war, dass unsere Babysitterin erstmal auch nicht mehr kommen durfte. Und anstatt der Verwirklichung von musikalischen Ideen nachzugehen, erlebte ich, wie irgendwie mein Beruf sich aufzulösen schien, während ich bibbern musste, ob mein Mann zur Geburt im Mai in den Kreißsaal mit dabei sein könnte. Und einem kleinen Chaos-Monsterchen hinterher räumen. Kinder leben im Hier und Jetzt und das war ein Segen, denn Paul hielt mich auf dem Boden fest. Aber körperlich verlangte er so viel von mir, die ich ihn eigentlich nicht mal mehr heben durfte. Und dabei hatte ich immer noch Glück: Mein Mann war im Homeoffice, konnte mit anpacken, wenn es nötig war. Im Garten unseres Miethauses gibt es einen Sandkasten und viel Platz, so dass ab Beginn des Lockdowns alle Kinder des Hauses draussen spielten. Wir Erwachsenen hielten Abstand und die Kinder bauten Sandburgen und Zelte im Gebüsch. „Wir stehen das schon irgendwie durch“, war die Devise von uns und das taten wir ja auch. 


Was aber schon da begann, war dieses „da müssen wir durch“, das Zähne zusammen beissen, stark sein, jetzt mehr denn je. Denn: eben, es ging uns ja gut. Und rückblickend war es eben das, was mich am 30.12. zusammenbrechen liess, und was mich immer noch heimsucht, und zwar immer öfter: Das Gefühl von, ich kann jetzt nicht mehr durchhalten, ich mag jetzt nicht mehr. Es gab immer Zwischenziele, und alle erreichten wir. Mathias durfte mit zur Geburt, die Betreuung von Paul in dieser Zeit klappte wunderbar. Und Bastian kam und war gesund und so gross und schwer und von Anfang an machte er klar, dass er nicht allein sein konnte – und das musste er auch nicht. Wir zwei, Basti und ich, genossen die (coronabedingten) besuchsfreien zwei Tage im Krankenhaus. Wir waren eigentlich nur am kuscheln. Und zuhause lebte er sich gut ein, wurde von seinem Bruder freudigst begrüsst und wir murkelten und ruckelten uns ins Familienleben ein. Auch wenn Corona immer präsent war, war es im Moment der Geburt und der Zeit danach für mich völlig unwichtig. Draussen tobte die Pandemie, aber drinnen waren wir im Wochenbett in Sicherheit – das klingt komisch, aber so war es. 


Ein zweites Kind ist nochmals eine neue Herausforderung, das hatten mir so viele Freunde schon gesagt, und trotzdem hatte ich es mir nicht ganz so streng vorgestellt, wie es dann war. Auch, wenn man sich aufteilt als Eltern, gibt es keine wirklichen Ruhepausen mehr, denn man ist dann immer für ein Kind verantwortlich – also wenn wir uns bei Paul noch die nächtlichen Wachphasen aufteilen konnten, dann war das jetzt vorbei, denn oft wurde durch Bastis Weinen in der Nacht auch Paul wach, so dass der Papa zu Paul ging und ich für den Rest der Nacht mit Basti alleine blieb. Was auch irgendwie ging und geht. Aber es zehrt. Beziehungsweise: es zehrt, weil Basti zu den 80% der Babies gehört, die nicht lange am Stück schlafen. Und irgendwie wurde der Schlaf auch nicht besser, sondern es wird immer schlimmer. Und das macht mich einfach kaputt. Ich weiss, dass es dazugehört, ich weiss, dass es wieder besser wird, ich weiss, dass es einfach nur natürlich ist. Der Neunmonate-Nicht-Schlaf-Peak ist bald erreicht und hoffentlich wird es danach wieder besser. Ich versuche immer noch, optimistisch zu bleiben und ich beisse immer noch die Zähne zusammen. Aber es fällt mir irgendwie immer schwerer. 

Im Sommer fing Paul an, in die Kita zu gehen – die Eingewöhnung lief richtig gut seither ist er ein gut gelauntes Kita-Kind – es brauchte bisher kaum Überzeugung, hinzugehen. Um so trauriger macht es mich, dass er nun jeden Morgen fragt, ob er heute zur Kita gehen darf und ich ihm das verneinen muss. Seit Dezember sind die Kitas wieder zu, bzw. in Notbetreuung und wenn wir ihn in der ersten Zeit immer noch zwei Tage die Woche schicken durften, war damit Mitte Januar auch wieder Schluss. Dank Babysitterin und dem Versuch, uns aufzuteilen, dank Homeoffice, dank dem, dass ich ja eigentlich noch in Elternzeit bin, kriegen wir das irgendwie hin. Aber es fühlt sich einfach so an, als würde man sich von Ast zu Ast hangeln ohne Sicherung und ohne Landekissen – nichts ist planbar und über Kultur wird schon gar nicht mehr geredet. Jeden Morgen nehme ich mir vor, am Abend etwas „sinnvolles“ zu tun, Korrespondenz, Pläne, Ideen, Programme – aber ich kriege es nicht hin. Ich bin so kaputt, dass ich entweder ins Bett falle, oder einfach aufs Sofa sitzen muss und etwas dummes gucken will.


Ja und die Musik? Ende September und im Oktober spielte ich ein wunderbar spannendes Programm im Duo mit Saxophon. Und im Moment probe ich für ein zwar schon verschobenes aber nicht aufgehobenes Klaviertrio-Konzert. Diese Trio-Proben sind im Moment meine Wochenhighlights, wir proben mit FFP2-Masken und Abstand, aber unsere Ohren sind weit geöffnet und mein Herz jauchzt, auch wenn ich eigentlich mehr üben sollte. „Die Musik ist eben deine Berufung, nicht nur dein Beruf“, meinte Mathias, als ich ihm vorschwärmte, wie sehr ich das Proben liebte. Wenn immer ich daran denke, dass irgendwann eine Normalität zurückkehren MUSS, dass es wieder Konzerte geben wird, dann fühle ich eine Art Frühling in mir. Yoga und Zumba helfen auch. Und Beat Saber auf der VR-Brille – ein eigentlich total idiotisches, aber trotzdem extrem cooles Weihnachtsgeschenk von uns Eltern für uns selber. 


Das Schreiben tut gut. Das „Rauszoomen“ tut gut. Ich muss lernen, dass gut genug auch gut genug bedeutet. Es muss nicht alles aufgeräumt sein, wenn die Wäsche nicht zusammengelegt ist, macht es nichts. Und auch Essen bestellen ist in Ordnung. 


So oft genüge ich meinen eigenen Anforderungen nicht. Ich schäme mich, wenn ich weinend auf dem Küchenboden sitze, weil Paul gerade den Plastikmüll umgeschmissen hat, während ich versuchte, die Spülmaschine auszuräumen, Basti zu beruhigen und Wäsche einzuräumen – „kriege ich denn gar nichts hin“? Und dann fallen mir natürlich just in dem Moment alle Dinge ein, die sonst noch liegen geblieben sind; Geburtstage, die ich vergessen habe; Briefe und Emails, die ich eigentlich schon längst hätte schreiben müssen. Die Schubert CD, die immer noch kaum rezensiert auf den Versand wartet. Uff. Das war heute. Danach habe ich eine Stunde Zumba getanzt und das Schlachtfeld meinem Mann überlassen. Anschliessend ging es wieder besser. Und morgen fahre ich in meinem Proberaum und übe. 


Ich mag den Unterschied, den Susanne Mierau von Geborgen Wachsen macht: sie schreibt von „Care Arbeitstagen“ und „Erwerbsarbeitstagen“ – sowieso lese ich in letzter Zeit zwischendurch gerne einige Mama-Blogs. Denn: genauso wie mir geht es noch gaaaaaaanz vielen anderen Mamas gerade. 

Heute sagte ich nach Abschluss der online Zumba Stunde zur Trainerin: „Ich weiss, wir können und sollten uns gerade nicht beschweren, denn es geht uns ja gut, aber irgendwie tut es einfach manchmal gut, es trotzdem zu tun“. 


Ich bin unglaublich dankbar für meine Familie, mein Leben als Familie, dankbar für meinen Lebensort, unsere Situation, dankbar für meinen Lebensweg, meine Berufung. Und irgendwann wird mich auch eine überlaufende Waschmaschine nicht mehr aus der Ruhe bringen können, oder? Ich drücke die Daumen, dass die Spannung und das Zähne zusammen beissen bald aufhören. Denn es hängt einfach alles zusammen. Aber nun muss ich ins Bett, mein Kuschelchen erwartet mich…. Auf dass das „Mangelhaft“ bald ein „Gut“ wird. Gut genug. 

Donnerstag, 6. Dezember 2018

es kugelt und rugelt durch die Stube und den Kopf



Während Klein-Pauli durch seinen Laufstall wippt und kugelt, versuche ich, einige Gedanken in Worte zu fassen, die mir seit geraumer Zeit durch den Kopf gehen.
Was ist es denn, das Schwierigste dieser neuen Etappe? Schlafmangel? Das "zu-nichts-kommen"? Fehlende Regeneration - Möglichkeit?

Für mich ist es etwas anderes: Die Verantwortung. Jeden Tag muss ich Entscheidungen treffen, die einen Einfluss auf ein anderes Menschenleben haben. Und zwar einen grossen Einfluss. Bisher konnte ich immer für mich entscheiden, nun entscheide ich für jemanden mit. Manche Entscheidungen scheinen sehr leicht - eine volle Windel sollte gewechselt werden, ein hungriges Kind gefüttert, etc. Aber: was, wenn man "windelfrei" erzieht? Was, wenn man feste Esszeiten eingewöhnen möchte?
Es gibt unzählige Bücher, Foren im Internet, Facebook Gruppen. Man kann sich wortwörtlich verrückt machen vor lauter Information. Man lernt eine neue Sprache: Es gibt StiBes und MüBes, KiA, Hebi, SchwiMu, Pekip, LLL, TT, BW, MuMi, PuMi, BLW,...
Und da sind die Peer-Gruppen: die Mamis vom Rückbildungs-Yoga; die Freundinnen, die auch Mama sind; die eigenen Verwandten, Eltern, Grosseltern. Die Hebamme sagt "bloss kein Fleisch, Kuhmilch ok", die Kinderärztin "bitte Fleisch, aber keine Kuhmilch vor einem Jahr". Es gibt Langzeit-Stillmamis (gerade aktuell polemisiert in der Regenbogenpresse), es gibt Musiker-Kolleginnen, die gar nicht stillen, weil es nicht mit dem Tournee-Plan überein stimmt. Es gibt Babies, die ab 3 Monaten in der Kita sind und Mamas, die zuhause bleiben bis die Kiddies zur Schule gehen. Es gibt böse Worte wie "Schlaftraining", "Erziehung von Anfang an". Und vor allem: es gibt kein Thema, das "wertfrei"diskutiert werden kann, denn: jede Mama macht es richtig, also ist ihr Weg der richtige Weg. Beziehungsweise: jede Mama hat es richtig gemacht und die nun erwachsenen Kinder sind der lebende Beweis dafür, dass man es richtig gemacht hat...
Wie kann man damit umgehen? Leben und leben lassen, meine ich da. Gerade im Netz finden teilweise gruselige Diskussionen statt, wie bei allen Themen, wird man auch als Mama immer hinterfragt, es gibt richtige Trigger-Themen, über welche virtuelle, ja sogar analoge Freundschaften plötzlich auf dem Spiel stehen (ich nenne impfen, schlafen, stillen, "verwöhnen", fördern, betreuen,...). Ganz ehrlich: Jeder, bzw. Jede findet ihren Weg. Dass es sooooviel Information gibt, Bücher, (die teilweise sich komplett widersprechen), Austauschmöglichkeiten, das zeugt meines Erachtens davon, dass es eben kein Ponyhof ist, dieses Leben, dass sich viele Mütter Sorgen machen, oft um dieselben Dinge. Auch dass man sich (zu) oft eine Bestätigung erhofft von dem Weg, den man wählt. Das klingt jetzt sehr abgebrüht, ist es aber nicht... ich habe schonmal einen ganzen Tag heulend am Telefon mit allen Mama-Freundinnen verbracht, weil ich nicht mehr weiter wusste. Vor lauter Bäumen sieht man oft den Wald nicht mehr, wa?
Ich bin ein Mensch, der den Sachen auf den Grund gehen möchte und ich will es richtig machen. Aber jeden Tag stelle ich aufs Neue fest: Es gibt kein richtig und falsch, es gibt nur die Entscheidung, die ich treffe dazu. Ich entscheide, was richtig und was falsch ist - und das ist doch eigentlich krass, oder? Auf jeden Fall eine grosse Verantwortung.

Aber dann gibt es dieses Wort "Beziehung" und das versöhnt mich immer wieder mit meinem Gedanken Karussell: Eine Beziehung ist ein Geben und Nehmen und steht und fällt mit Kommunikation. Nun sagt mir Paul (noch) nicht: "Du, Mama, also ich finde den Brei gerade ziemlich lecker, aber die Konsistenz geht ja gar nicht, bääääh", aber er kann das auch anders ausdrücken, glaubt mir! In einer Beziehung muss es für beide Personen stimmen. Also sollten sowohl die Bedürfnisse von Paul, wie auch von mir irgendwie gedeckt sein. Dabei macht man Abstriche, klar, aber sich selber aufgeben ist in einer Beziehung nicht gesund. Davon abgesehen, gibt es auch noch die Beziehung zum Papa (sowohl meine wie auch die von Paul zu Papa). Eine Dreieck-Beziehung also, die zwischen allen Beteiligten harmonisch verlaufen sollte. Wir finden unseren Weg!
Wenn Paulchen also zwei Vormittage die Woche von der wundervollen Bea betreut wird, damit ich in die Bibliothek kann, dann profitiert er doppelt: Bea ist toll und Mama super gut drauf, wenn sie wieder da ist.
Wenn Paulchen nun schon sieben Zähne hat und diese gerne braucht, ausserdem Brei in Mengen verspeist, dann wird eben immer mehr gekuschelt als gestillt.
Und seit das neue Elternbett da ist, schläft Paul nun in seinem Zimmer - zumindest die erste Nachthälfte. Danach kommt er in die Mitte (und muss beide berühren können, sonst ist doof).

Was mir jedoch am meisten Mut macht und mich jeden Tag aufs Neue bestätigt, dass eben doch alles ganz ok ist: Paul wächst, gedeiht, lacht, brabbelt und lernt jeden Tag etwas dazu. Er entdeckt die Welt mit Mund und Händen, reagiert auf Musik (Mozart beruhigt, Clueso ebenso, Mamas und Papas Musikwelten sind beide in Ordnung :-)), er kriegt bei watschelnden Enten einen Lachanfall. Auch wenn es in der Hose knattert, muss er grinsen.... Beim Mittagsschlaf liegt er am liebsten Gesicht an Gesicht, die Patschehändchen um meinen Hals (oder den vom Papa) gedrückt.
Er ist ein Sonnenschein und bringt seine Umwelt zum Strahlen. Es ist zum Weinen schön...

Und ab Januar ist Papa zuhause erstmal und ich gebe Gas bei der Diss und am Klavier. Das stimmt schon alles...

Montag, 24. September 2018

"Pause"


Seit gut sechs Monaten bin ich Mama. Bis kurz vor der Entbindung besuchte ich noch Vorlesungen an der Humboldt-Universität, probte mit meiner Geigen-Freundin Klara die Kreuzer-Sonate und begleitete eine argentinische Hornistin für ihre Aufnahmeprüfung. Ich nähte, übte, ging ins Yoga. Plante CD-Aufnahme, Konzertreise.

Und dann kam Paul Alexander am 9.3. auf die Welt. Ein kleines Wunder. Von Anfang an war er das liebste und beste Baby der Welt (natürlich - das eigene ist immer das beste). Und plötzlich drehte sich meine Welt nur noch um ihn. Nach acht Wochen wollte ich wieder mit meinen verschiedenen Jobs beginnen - Jugendclub an der Staatsoper, Klavierstunden geben, üben, an der Diss schreiben. Und ich stellte fest - geht nicht. Und zwar nicht, weil es nicht ging (es ist alles eine Frage der Organisation), sondern weil ich plötzlich nicht wollte. Ich beschloss - nach langen schlaflosen Nächten (Paul schlief, ich nicht) - innezuhalten. Eine "Pause" zu machen.

Mama sein ist ein Vollzeit-Job. Natürlich kann man daneben noch andere Vollzeit-Jobs machen. Oder könnte man. Aber ich will es gerade nicht.
Seit ich beschlossen habe, eine "Pause" einzulegen, fühle ich manchmal, dass ich mich dafür rechtfertigen muss. Vor wem? Der Gesellschaft? Meinen treuen Zuhörern? Ich fühle, dass ich lieber nicht sagen sollte, dass ich gerade nicht in Südamerika rumtoure, weil ich sonst schnell "weg vom Fenster" bin. So ein Quatsch!

Ich liebe das Mama-sein, ich liebe es, meinen Sohn zu stillen, ihn in diese wunderbare Welt einzuführen. Ich liebe es, mit ihm auf seiner Spieldecke zu liegen, mit ihm im Park zu spazieren. Ich liebe es, Klavier zu üben, wenn er zuhört, für ihn zu singen, mit ihm zu brabbeln, gurgeln, lachen...
Diese Zeit kommt nie wieder und ich habe beschlossen, sie zu geniessen. Mit einer Vollzeit-Pause, die ja eigentlich so gar keine Pause ist, denn ganz ehrlich: wann in meinem Leben habe ich weniger geschlafen als jetzt? Anstatt über einen kniffligen Fingersatz denke ich also gerade darüber nach, was es noch für Zahnungshilfen gibt.

Trotz dieser "Pause" bleibe ich natürlich musikalisch fit - ich schreibe an der Diss und ich übe - auch als Vollzeit-Mama finde ich immer wieder ein paar Stunden. Und wenn sich eine Einspring-Möglichkeit ergeben sollte, bin ich bereit, na klar! Alles nur eine Frage der Organisation.
Aber ansonsten mag ich diese Zeit mit Pauli verbringen, ohne schlechtes Gewissen und ohne 1000 To-dos im Hinterkopf.

Deshalb wird die CD-Aufnahme und die Konzertreise verschoben. Auf die Zeit nach der "Pause".
Ach und wisst ihr, wohin die Reise dann im Mai 2019 geht? Nach Chile natürlich, mit Beethovens viertem Klavierkonzert...

Montag, 1. Dezember 2014

Südamerika Reise September/Oktober 2014

Fünf Wochen dauerte meine diesjährige Konzertreise, die mich von Berlin über Asunción, Santiago und Buenos Aires bis in den tiefsten Süden, nach Ushuaia führte. Hier eine kleine Zusammenfassung, Tag für Tag...

11. September
Es geht los. Koffer gepackt, genug Lesestoff dabei. Die Reise verläuft gut bis nach London, wo unser Weiterflug - nach mehreren Stunden im Flugzeug warten - wegen technischen Problemen annulliert wird. Die Fluggäste sind logischerweise erbost und übermüdet. Nachdem klar wird, dass man uns in ein Hotel bringt, wende ich meine in Russland erlernten Fähigkeiten des "Schlange stehen" an und werde somit als eine der ersten verfrachtet. Nicht das letzte Mal, dass mir dieses Rennen auf dieser Reise helfen sollte... Trotzdem wird es drei Uhr früh, bis ich im Bett bin. Aber ehrlich gesagt, was kann man denn tun, wenn ein Flugzeug technische Probleme hat? Immer mit der Ruhe...

Abflug in Tegel
12. September
Die Reise geht weiter. Meine Suche nach einem Klavier im Hotel oder am Flughafen Heathrow bleibt erfolglos. Ich übe mental und versuche, ruhig zu bleiben. In solchen Situationen ist es immer spannend, wie schnell man ins Gespräch kommen kann, ich lerne eine französische Pianistin meines Alters kennen, die in Buenos Aires lebt und wir unterhalten uns prima. Die Reise verläuft reibungslos. Der Chirurg neben mir hört auch irgendwann mal auf, mir von seinen Golfkünsten und medizinischen Wunderhänden zu erzählen und so fliege ich ruhig nach Buenos Aires.

13. September
Ankunft in Buenos Aires. Endliches Wiedersehen mit Marion Eppinger, der nun über 80jährigen Dame, die mich immer bei ihr unter schlüpfen lässt - wie gewohnt können wir uns stundenlang über Kunst unterhalten. Nach Beruhigung meiner Nerven und meines Gewissens am Klavier schlendere ich der Strasse Santa Fe entlang und besuche "meine" Modistin. Es wird ein grünes Kleid werden... Außerdem finde ich noch ein rotes in einem anderen Geschäft, das meines Erachtens perfekt zu Rachmaninow passt....

14. September
Nach weiterem Üben und Koffer umpacken geht es weiter nach Paraguay. Gioia Weber, meine Repräsentantin in Argentinien und Paraguay holt mich vom Flughafen in Asuncion ab und bringt mich ins altbekannte Hotel Chaco. Dort hat sich seit dem letzten Jahr nichts verändert, mein Handy wählt sich selbst wieder ins WLAN ein, es ist, als ob die Zeit im Chaco still steht, seit mindestens fünfzig Jahren..

15. September
Erste Probe mit Orchester. Um 8:30 beginnt die Probe, beim ersten Durchlauf merke ich noch einige Schwachstellen, beim darauf folgenden detaillierten Arbeiten wird aber sofort vieles klar. Es ist eine Freude, mit einem Dirigenten wie Diego Sanchez Haase zu arbeiten, ein absoluter Profi, ruhig und leicht verständlich, der sein Orchester im Griff hat. Das Orchester des Cabildo ist eines der drei Sinfonieorchester in Asuncion, die Musiker sind alle sehr jung und sehr enthusiastisch. Man merkt ihnen allen die Freude am Spielen an und diese Freude überträgt sich sofort auf die Qualität des Spiels.
Am Nachmittag übe ich und besuche das "Ateneo Paraguayo", das Kulturzentrum, wo ich ein Benefizkonzert für die Rennovation desselben geben werde. Im Ateneo kann man Instrumental-, Schauspiel-, Tanz- und Kunstunterricht nehmen und das seit 1889...
Bibliothek des Ateneo

Am Abend ein Wiedersehen mit Gloria und Luis, den Freunden von Gioia im "cafe de acá". Theoretisch ist es noch immer Winter, aber wir sitzen draußen im Freien bis um Mitternacht...

16. September
Zweite Probe mit Orchester. Jetzt freue ich mich schon richtig auf das Konzert. Nach der Probe treffe ich mich mit einer Paraguayerin, die im letzten Jahr bei mir Unterricht nahm. Laura ist in meinem Alter und wir sind dank Facebook in Kontakt geblieben. Und so trinken wir frischen Orangensaft in einem der berühmtesten Kaffees im Zentrum und schlendern noch ein wenig durch die Straßen. Viele kolonialistische Bauten wurden schon renoviert im Zentrum, einige Häuser verfallen aber zusehends.
Das Pantheon

Platz vor dem Pantheon

Museum der Stadt
Am Nachmittag schleife ich nochmals an Rachmaninow herum, morgen ist es dann soweit...

17. September
Das erste Konzert. Die Hauptprobe im Theater Ignacio Paine am Vormittag läuft gut. Der Flügel ist ein Steinway D und die Akustik sehr gut - also bestmögliche Bedingungen. Wie immer bei "ersten Mals" ist der Auftritt nervenaufreibend, doch es gelingt uns an diesem Abend, das zweite Klavierkonzert von Rachmaninow seiner würdig aufzuführen, das Konzert ist ein voller Erfolg und ich bin sehr zufrieden.


Die Botschafter der Schweiz sind da, ich freue mich sehr über das Wiedersehen, ab morgen werde ich auch eine ganze Woche bei ihnen wohnen dürfen, wie toll! Das Konzert wird natürlich ausgiebig gefeiert: Zusammen mit den Musikern des Orchester genießen wir den lauen "Winter"-Abend im Innenhof einer Bar im Zentrum....

18. September
Das Leben geht weiter nach Rachmaninow! Heute steht schon alles im Zeichen vom Konzert im Ateneo: Ich werde von verschiedenen Zeitungen interviewt und bespreche organisatorische Einzelheiten..
An der Hauswand des Ateneo
Am Nachmittag übe ich wieder im Cabildo und ziehe in die Residenz des Schweizer Botschafter um. Am Abend gibt es dort ein Abendessen, zu meinen Ehren, die Gäste sind alle Personen, die zum Gelingen der Reise beitragen, also Sponsoren, Organisatoren, der Dirigent von gestern, Gioia Weber,... ein wunderbares Essen mit Schweizer Spezialitäten auf einem wunderbar angerichteten Tisch, ein richtiger Augen- und Gaumenschmaus.

19. September
Heute dreht sich alles um das Konzert von morgen. Der Tag vergeht mit üben, organisieren und mit guten Gesprächen mit den Botschaftern.

Diese Gelegenheit möchte ich nützen, um auf das wunderbare Projekt der Botschafterin Anne Henchoz hinzuweisen. Es handelt sich dabei um die Association Lapacho, das sich zur Aufgabe gestellt hat, den Kindern in Paraguay zu helfen, die sonst sehr wenig Chance haben: Kindern mit HIV, Kindern mit einer Behinderung, die von ihren Eltern einfach verlassen wurden. Die Association Lapacho organisiert Projekte zur Verbesserung der Lebensbedingungen dieser Kinder, also z. Bsp. den Bau eines neuen (regen sicheren) Dachs im Heim Juan Pablo, die Integration an Schulen, die medizinische Untersuchung der Kinder, etc.  Im vergangenen Jahr durfte ich bereits an einer Benefiz Veranstaltung in Genf teilnehmen, um dieses Projekt zu unterstützen.
Es ist einfach, als Frau eines Diplomaten in Paraguay (oder anderen Ländern) zu leben und die Augen zu verschliessen vor der Armut der Menschen, sich nur aufwendigen Cocktail Parties zu widmen und ein Netzwerk zu haben, das der Meinung ist, dass jeder seines eigenen Schicksals Schmied ist..
Um so mehr bewundere ich die Arbeit von Madame Henchoz, die sich mit Herz und Seele diesem Projekt verschrieben hat und nicht aufgibt, bis sie ihre Ziele erreicht und immer wieder (erfolgreich) versucht, auf die Kinder des Lapacho Projekt aufmerksam zu machen. Hier könnt ihr Euch selber ein Bild der Association Lapacho machen.

20. September
Konzert im Ateneo Paraguayo. Heute ist mein 31. Geburtstag und was gibt es Schöneres, als am Geburtstag ein Konzert zu geben, und erst noch ein Benefizkonzert für die Rennovation einer alten ehrwürdigen Institution wie das Ateneo Paraguayo. Drei Kategorien gibt es für dieses Konzert: Die VIP Kategorie im Saal, die "normalere" Kategorie im Vorraum und die Plätze im Innenhof, wo das Konzert auf einer großen Leinwand übertragen wird.


Ich spiele Tschaikowski (aus den Jahreszeiten), Alfred Felder (Memoir) und Liszt (aus Années de Pèlerinage, La Suisse). Als Zugabe spiele ich ein kleines Stück aus Paraguay.
Das Publikum freut sich und ich werde mit Geschenken überhäuft, besonders freut mich eine Erstausgabe eben dieses Stücks, das ich als Zugabe gespielt habe. Und plötzlich kommt ein Mädchen mit seiner Geige und spielt "Happy birthday" und ein anderes bringt mir einen großen Blumenstrauß und eine riesige Torte wird hereingebracht.... Wow! Was für ein schöner Tag!


21. September
Heute ist mein erster freier Tag. Laura, die Pianistin nimmt mich mit auf einen kleinen Ausflug zusammen mit ihrer Schwester und ihren zwei kleinen Kindern.


Wir verbringen einen wunderschönen Tag mit Zwischenstopps, zum Beispiel an der Lagune Ypacarai, die ca. 50 km von der Hauptstadt entfernt liegt. Baden kann man trotz dem schönen Tag nicht, das Wasser sieht nur sauber aus, ist aber leider total verschmutzt...


Den letzten Zwischenstopp machen wir an einem Früchte-/Kuchenladen auf dem Heimweg, wir verputzen Erdbeeren mit Chantilly, es ist himmlisch...




22. September
Heute beginnt mein dreitägiger Workshop im Ateneo. Ich unterrichte Schülerinnen (aus irgendeinem Grund kommen nur Mädchen) und Lehrer des Ateneo, alle spielen auf einem mittelmäßigen Niveau. Es fehlen viele Grundlagen. Wie produziert man einen vollen Ton, wo ist die Melodie, wie spielt man eine schnelle Passage. Den ganzen Tag wiederhole ich die gleichen Sätze... Es ist sehr anstrengend aber auch spannend, denn nach den Stunden habe ich das Gefühl, dass sich ein paar Dinge verbessern können, wir werden das Resultat morgen sehen....

Mit meinen Schülerinnen

23. September
Ja, die Schülerinnen haben Fortschritte gemacht, ich bin streng, aber klar. Es muss mehr geübt werden, vor allem "intelligent" geübt werden. Nicht hundertmal eine Passage wiederholen und dann denken, das geht schon irgendwie.... Ich merke wiederholt, wie sehr hier gute Lehrer fehlen. Damit möchte ich mich nicht auf ein Podest heben, aber ein Lehrer ist doch die Grundlage für jedes Spiel. Wenn der Lehrer nicht weiss, wie man eine schwere Stelle üben kann, wenn so wichtige Dinge wie Frasierung, Herausholen eines Klangs, Organisation von Melodie und Polyphonie komplett fehlen, wie kann das gut gehen?
Am Abend bin ich ans Festival de Cinema eingeladen, das Filmfestival von Asuncion, heute die "Schweizer Nacht" mit Unterstützung der Botschaft. Ich darf natürlich mit den Botschaftern fahren, was für eine Ehre. Der Film, der gezeigt wird, heißt "les grandes ondes" und ich hab selten so gelacht in letzter Zeit wie bei diesem Film, den ich hiermit Allen ganz herzlich empfehlen mag. Lustig, komisch und gleichzeitig tiefsinnig - ein Wurf. Hier der Trailer.

24. September
Am dritten Tag habe ich das Gefühl, dass bei den Schülerinnen "der Groschen gefallen ist" - zumindest was einige Basics angeht. Aber heute ist der letzte Tag, wie geht es weiter? Ich bespreche die Situation mit den Lehrern des Ateneo, sowie auch mit dem Direktoren, es reift die Idee eines längeren Aufenthaltes. Wir werden sehen, was sich machen lässt.

Am Nachmittag gebe ich eine "clinica", also ich halte einen Vortrag über Tschaikowskis Jahreszeiten. Ich erkläre, worum es geht, erzähle die Geschichte um das Stück herum und spiele es schliesslich vor. Natürlich nicht, ohne vorher einige Aufgaben zu stellen. Nach der Nachbesprechung gibt es den unumgänglichen Fototermin, danach gehe ich "nach hause" in die Residenz.




25. September
Letzter Tag in Paraguay. Ich übe im Ateneo, treffe mich mit Laura  und Alfredo (beides Geiger des Orchesters) zum Mittagessen.
Ich verabschiede mich vom Ateneo, es ist ein "Auf ein baldiges Wiedersehen"... Souvenirs werden eingekauft und ich packe meinen Koffer, denn Gioia, die mir diese ganze Zeit auch zur Seite stand, holt mich ab und bringt mich zu ihren Freunden Luis und Gloria. Mit diesen essen wir gemeinsam, danach kann ich zwei Stunden schlafen, bis es losgeht zum Flughafen. Der Direktflug nach Chile ist nämlich schon um 05:00 morgens...

26. September
CHILE!!!!!Wie immer, wenn ich in Santiago lande, fühle ich mich ein bisschen Zuhause. Hier ist es Frühling, Blumen sprießen, der Weg nach Viña del Mar verläuft ohne Probleme. Mario Cervantes, chilenischer Pianist und Direktor des privaten Konservatoriums "Sergei Prokofiew" holt mich am Busbahnhof ab und bringt mich zu meiner Unterkunft, einem Appartement, das eigentlich seinen Verwandten gehört, die gerade nicht da sind. Der Ausblick ist ein absoluter Traum... Ich stelle nur mein Zeugs hin, springe kurz unter die Dusche und dann gehts zum Mittagessen, das natürlich aus einer "Empanada chilena", also einer typisch chilenischen Teigtasche besteht... Danach kann ich ein Weilchen auf dem Flügel im Theater üben, ein wunderschöner großer Bösendorfer.
Plakat in Viña
Das Theater von Viña wird seit dem Erdbeben 2010 renoviert, der große Theatersaal ist also geschlossen und die Veranstaltungen finden im Foyer statt... das ist aber auch wunderschön.

Foyer
Nach der Probe spaziere ich zum Konservatorium, wo ich noch ein bisschen weiter übe. Zum Abendessen kaufe ich mir Avocado, Brot, Käse und Schinken und ich gucke die aktuelle chilenische Fernsehserie, ein Déjà-vu.... Außerdem kann ich gleichzeitig einer der schönsten Sonnenuntergänge bewundern...




Erschöpft und glücklich falle ich ins Bett, was ich besonders schätze: Es gibt einen elektronischen Matratzen-Wärmer - der siebte Himmel für alle Kälteempfindlichen....

27. September
Konzert in Viña. Nach ca. 12 Stunden Schlaf fühle ich mich wunderbar ausgeruht und alle Strapazen der letzten Tage sind vergessen. Mario holt mich ab zum Mittagessen bei seiner Familie, ich lerne endlich seine Frau kennen und den kleinen Franco, das jüngste Familienmitglied, das gerade erst zwei Monate alt ist. Wir plaudern gemütlich, fast schade, dass ich noch ein Konzert geben muss, wir unterhalten uns prächtig.. Aber ich muss los - jetzt steht der Flügel im Foyer und ich spiele mich ein. Die zuständigen guten Seelen des Theaters kümmern sich wunderbar um mich, sie bringen Gasöfen in den Saal, damit ich in meinem Kleidchen nicht zu kalt habe, sie stellen mir einen Thermos mit Kaffee und Tee in die Garderobe, auch diese mit Heizöfen ausgestattet, da gibt es Plätzchen, Schokolade und Bananen, alles wunderbar... Nur: Irgendetwas liegt mir auf dem Magen - ich bin mich wohl doch nicht mehr an das chilenische Wasser gewöhnt und so muss ich eine halbe Stunde vor Konzertbeginn jemanden losschicken, mir doch bitte Kohletabletten zu besorgen. Natürlich kann dieser beunruhigende Fakt nicht geheimgehalten werden, so dass alle der Organisation sofort wissen, dass ich gerade mit anderem als Nervosität zu kämpfen habe, obwohl es die Meisten natürlich darauf zurückführen..... Mein größte Sorge ist also, dass ich während dem Konzert plötzlich raus rennen muss. Aber nun ja, was soll man tun. Das Foyer ist übervoll, die letzten Gäste müssen sich auf die Treppen setzen. Die Kohletabletten wirken und ich muss nicht rennen, es wird ein super Konzert. Auch das Werk von Alfred Felder kommt sehr gut an.


ich erkläre den E-Bow
Auch im Saal (sogar in der 1. Reihe): Der Pate meiner Gastschwester und seine Frau. Und mein Freund Felix Pino, Komponist, der mit mir zusammen in Russland studiert hat und nun wieder in seiner Heimat Chile lebt... Mit ihm und seiner Freundin gehen wir auch noch essen nach dem Konzert. Was für ein schöner Abend!
Mit Mario und Felix

28. September
Familiensonntag in Rancagua. Ich fahre von Viña nach Rancagua. Mario bringt mich zusammen mit seiner süßen Tochter zum Bus und wir besprechen noch einige Ideen einer weiteren Zusammenarbeit. (In Chile kann man noch so viel machen: Sommerkurse, Wettbewerbe,....) In Rancagua erwartet mich meine Gastfamilie, es ist ein richtiges Nachhause-Kommen. Lorena, eine Freundin, die seit sieben Jahren in Australien lebt und im Juli bei uns in Berlin zu Besuch war, ist auch schon da und es wird gegrillt. Meine zauberhaft-schrecklichen Neffen Vicente (7) und Agustin  (5) hängen natürlich gleich wieder an mir rum.
meine Neffen ;-)
Ich werde noch ein bisschen gefeiert (Geburtstag!) und wir unterhalten uns einfach prima.

30 +1
mit Rayen und ihrer Mutter Soledad
Natürlich gibt es viele Neuigkeiten, aber irgendwie ist auch immer noch alles gleich. An meiner Nichte Rayen merke ich, wie die Zeit verfliegt: Als ich das erste Mal in Chile war mit 16 durfte ich sie immer am Nachmittag nach der Schule hüten, wir hatten uns angemalt und gespielt... Jetzt ist sie 19 und arbeitet als Sekretärin an der Schule meiner Gastmutter und wird ab nächstem Jahr Englisch studieren, sie ist total erwachsen geworden...

29. September
Es geht wieder los. Meinen großen Koffer lasse ich hier, ich komme nächstes Wochenende wieder. Ich fahre nach Santiago in meine Unversität - dort darf ich üben während meines Aufenthaltes in Santiago. Ich sehe meine Freunde David und Yohann wieder, ansonsten kenne ich nur noch wenige. Ich übe und fahre dann zu Pilar, einer Freundin aus Uni-Zeiten. Pilar arbeitet in der Stiftung für Kinder- und Jugendorchester als Organisatorin und als Cellolehrerin. Sie hat nach Chile in Venezuela studiert und war Teil des dortigen "Sistema", das nun mehr und mehr auch in Chile angewendet wird. Die Grundidee dafür ist relativ einfach: jeder Bezirk des Landes besitzt ein Kinderorchester und ein Jugendorchester, die Kinder werden von früh auf unterrichtet und können sich so nach der Schule einem "gesunden" Hobby widmen. Alles gratis. Diejenigen, die schon länger dabei sind müssen als Gegenleistung dafür die Kleinen unterrichten und so geht es immer weiter. Pilar fliegt einmal im Monat nach Punta Arenas, in den tiefsten Süden Chiles, wo sie eine Woche Cello unterrichtet. Den Rest des Monats verbringt sie in Santiago und unterrichtet die Schüler per Skype. Vor Ort kontrolliert jemand ihre Anweisungen. Darüber und über vieles mehr reden wir noch bis tief in die Nacht. Ihr Kater Romeo leistet uns Gesellschaft und wärmt auch in der Nacht meine Füsse....

30. September
Das war eine kurze Nacht, um 09:00 geht mein Flieger nach Temuco, eine Stadt ca. 700km im Süden von Santiago. Auf dem Flughafen flechte ich noch schnell meine Zöpfchen. Ich werde von Luis Abarzua abgeholt, dem Leiter von Veranstaltungen der UFRO, Universidad de la Frontera, der staatlichen Universität von Temuco. Wir fahren zuerst ins Hotel, wo ich mich ein wenig ausruhen kann, danach gibt es Mittagessen und Mittagsschläfchen. Am Nachmittag werde ich zur Aula Magna der Universität gefahren, wo ein kleiner Steinway steht, der schon auf mich wartet. Ich übe und organisiere, was dazu gehört: Kann mir noch schnell jemand ein Bügeleisen besorgen, wer macht das Licht, etc...
Habe selber gebügelt, wirklich!!!

Alles verläuft jedoch wie am Schnürchen und das zahlreich erschienene Publikum (ca. 600) freut sich über alle Werke. Auch hier kommt das moderne Schweizer Stück gut an. In Chile und in Südmerika allgemein gibt es noch nicht viel zeitgenössische Musik, die ins Konzertprogramm integriert wird. Wenn man diese Musik in ein Programm einbettet, das leicht verständlich ist und das Werk einführt, dann ist das Publikum durchaus bereit, sich darauf einzulassen. Besonders junge Leute kann man damit begeistern, denn es ist etwas Neues - bei "Memoir" von Felder sogar mit einem Spezialeffekt (E-Bow), was immer besondere Aufmerksamkeit erregt.

Beim Abendessen lerne ich endlich auch die Honorarkonsulin der Schweiz, Marianne Fiala-Beutler, kennen - ihr verdanke ich das Konzert in Temuco.

1. Oktober
Am Vormittag übe ich wieder in der Aula Magna, aber dann geht es auf einen Ausflug zusammen mit Frau Fiala-Beutler und Luis Abarzua: Wir fahren  ins Landesinnere nach Pucon, einem der beliebtesten Ferienorte im Süden Chiles. Das Wetter ist ein Traum, den ganzen Tag über sehen wir den verschneiten Vulkan Villarica, das Thermometer klettert bis auf 25 Grad hoch. Die Touristensaison hat noch nicht begonnen und so genießen wir den Tag ohne in Autoschlangen zu stehen....In Pucon gibt es viele kleine Boutique- und Spezialitäten Geschäfte und natürlich kaufen wir ein (z. Bsp. Merquén, ein geräuchertes Chili-Pulver, das von den Mapuches gebraucht wird und hausgemachte Karamell-Bonbons für meine Neffen) und wir spazieren am See und genießen die Sonne....
Lago Villarica mit dem Vulkan
In Pucon
Spezialitäten :-)
See in Pucon
Auf dem Heimweg werde ich direkt wieder am Flughafen abgeladen, wir bleiben in Kontakt! Und wieder geht es nach Santiago zurück zu Pilar und dem Kater Romeo.....

2. Oktober
Heute reise ich wieder in den Süden, allerdings mit dem Bus (heute mache ich die Zöpfchen also im Bus) und nicht ganz so weit: San Javier liegt gut 250 km südlich der Hauptstadt und in der Nähe von der Provinzhauptstadt Talca. Seit nur wenigen Jahren gibt es in San Javier ein Theater, das vom Staat unterstützt wird und ein sehr gemischtes Programm anbietet - klassische und Popmusik, Opern, Musical, Komödie, alles zu Preisen, die sich wirklich alle leisten können.


Und seit diesem Jahr steht da auch ein wunderschöner kleiner Steinway Flügel, der einem bekannten Sänger gehörte und deshalb gehört nun auch ein klassischer Klavierabend zur Agenda des Monats - heute mit mir... alles ist sehr gut organisiert, man holt mich ab, ich kann proben und mich ausruhen im Hotel, das gerade neben dem Theater liegt und am Abend spiele ich vor einem sehr interessierten Publikum - auch hier Felder und natürlich Liszt.


Im Publikum sind meine Gasteltern, die extra von Rancagua hierher gekommen sind. Sie waren noch nie an einem Konzert von mir und waren sichtlich beeindruckt und stolz, was mich sehr glücklich macht.
Mit meinen Gasteltern
Ebenfalls da waren die Eltern und die Tante von meiner Freundin Camila, die gerade in St. Petersburg studiert und die überhaupt den Kontakt mit San Javier hergestellt hat. Sie entführen mich spontan ins Haus der Tante, wo wir ein kleines Abendessen her zaubern - chilenische Gastfreundschaft pur.

3. Oktober -5. Oktober
Am Freitag Vormittag darf ich nochmals im Theater üben, danach fahre ich zurück nach Rancagua, wo ich mich von dem anstrengenden Reisen erstmals erholen kann. Es tut richtig gut, sich einmal zweieinhalb Tage etwas völlig anderem widmen zu können, dem familiären Leben.... Ich kann meine Kleider waschen, wieder umpacken, mit meinen Neffen spielen, mich mit Freunden treffen und einfach mal zur Ruhe kommen....Genau das, was ich brauche, um wieder durchzuhalten, was mich noch erwartet...
Mit Agustin
Mit Vicente
Am Samstag findet übrigens in der Schule meiner Gastmutter ein Folklore-Fest statt. Alle Kinder (die kleinsten sind drei Jahre alt) tanzen verschiedene Volkstänze Chiles. Dadurch, dass Chile so lang ist und sowohl klimatisch wie auch ethnisch aus vielen verschiedenen Regionen besteht, sind auch die Tänze völlig verschieden: Auf der Osterinsel tanzen die Frauen im  polynesischen Kokosnuss-Schalen-Bustier, im Süden mit Wollsocken und Woll-Bommel-Mützen, im Zentrum ganz spanisch angehaucht...




Wieder einmal bin ich beeindruckt von dem Körpergefühl der Kleinen und von der Farbigkeit dieses Landes. Und wie immer fühle ich mich Zuhause und ertappe mich mehrmals dabei, mir vorzustellen, hier wieder zu leben, was mir erstaunlich leicht fällt.

Carola, Ximena und Lorena
Mit meiner Gastschwester Carola
Dafür fällt mir der Abschied umso schwerer, aber wer nicht geht, kann nicht wieder kommen. Das erkläre ich auch meinen Neffen, die wollen, dass ich sie im Koffer mitnehme....

6. Oktober
Wieder zurück in Santiago fahre ich erstmals zu Pilar, um den Koffer abzustellen und dann wieder ins Konservatorium. Ich übe und treffe mich wieder mit David und Yohann, die auch schon einen Ort gefunden haben, wo wir heute Abend noch ausgehen können, was wir nach getaner Pflichten auch tun. Pilar gesellt sich zu uns, wie auch noch andere Freunde und wir geniessen einen sehr lustigen Abend im Zentrum von Santiago.



7. Oktober
Ein Tag voller Treffen. Zum Frühstück treffe ich meinen Freund Felipe, den ich seit meinem Austauschjahr kenne. Wir plaudern bei Kaffee und Kuchen über das Leben überhaupt und über unser Leben im Speziellen, er bringt mich dann zur Schweizer Botschaft, wo ich mich mit der Attachée Culturelle treffe. Wir unterhalten uns blendend und ich weiß, dass ich auf sie zählen kann für weitere Kontakte. Danach übe ich im Konservatorium und treffe mich zum Mittagessen mit meinem Freund Luis, einem Schauspieler, der sich freut, dass er nun endlich mal mich einladen kann. Auch ihn habe ich bestimmt seit sechs Jahren nicht mehr gesehen... er erzählt mir, dass er in einem seiner letzten Stücke einen eingebildeten Pianisten spielen musste, was mich ziemlich amüsiert... und wir finden heraus, dass einer seiner Freunde mit einer meiner Freundinnen zusammen ist - die (Künstler-)Welt ist eben klein... Am Nachmittag übe ich weiter und kann auch mit David am zweiten Klavier noch einmal das Rachmaninow-Konzert spielen und so treffe ich mich nach dem Abschied mit gutem Gewissen mit Pilar und wir gehen Sushi essen - definitiv zu viel davon, aber es ist so lecker!!!!! Außerdem trinken wir Pisco sour (chilenischer Traubenbrand mit Zitronensaft  - das Nationalgetränk Chiles, von dem die Peruaner behaupten, sie hätten das erfunden....was auch stimmt) und sprechen über unsere Geschichten, die das Leben schrieb (davon haben wir beide genug). Wir haben noch viele Zukunftsideen, mal sehen, was sich alles verwirklichen lässt. Glücklich falle ich ins Bett.
Pilar und Sushi ;-)

8. Oktober
Anden

Nach einem frühen Flug bei fantastischem Wetter nach Buenos Aires fahre ich gleich zum Konzertort, der "usina del arte", also Kunstfabrik heisst.
Er befindet sich im populären Quartier "La Boca". Die Usina ist in Hand der Stadtregierung und bietet ein tolles Programm an - Ausstellungen, Konzerte, Theater, alles auf höchstem Niveau, auch auf höchstem Niveau von Des-Organisation und Nicht-Kommunikation. Als ich ankomme findet im Konzertsaal noch immer ein Kongress statt. Der Leiter davon erklärt uns auch gleich, dass er den Saal bis um 20.00 gemietet hat, dass es also ziemlich unmöglich sei, dass das Konzert um 18:30 anfangen könnte. Ebenfalls finden wir heraus, dass von dem Konzert nicht viele Leute Bescheid wissen und dass eben nicht genug kommuniziert wurde... Und so spiele ich am Abend ein wirklich gutes Konzert in einem riesigen Saal auf einem schönen Blüthner Flügel für eine kleine Gruppe - mir ist es egal, ich spiele auch für eine Person...


Ich nehme es auch wieder als Test, was ich alles aushalten kann: Am morgen noch in Chile, um 5:30 aufgestanden und am Abend auf der Bühne - geht das? Ja, es geht, wenn man das Programm in- und auswendig kennt, wenn es schon so oft gespielt wurde, dass man sich auf die Finger total verlassen kann und wenn man sich in keinster Weise aufregt über äußere Umstände wie Stau, nicht sauber gestimmtes Instrument, kleines Publikum... In dieser Hinsicht schlafe ich sehr glücklich ein an diesem Abend. Ich bin wieder bei Marion Zuhause.

9. Oktober
Mehr Meetings: Ich treffe den neuen Schweizer Botschafter in Buenos Aires. Herr Mock ist in Mexiko geboren, spricht deshalb akzentfrei spanisch und macht auch sonst einen äussert sympathischen Eindruck, der sich mir in den nächsten Tagen auch noch bestätigen wird, denn er ist zusammen mit seiner Familie ans Festival in Ushuaia eingeladen! Dann treffe ich mich mit Pablo, meinem Freund, der gestern bei der Organisation mit beteiligt war und der mein Honorar bezahlt. Wir unterhalten uns darüber, was gestern gut und was nicht so gut gelaufen ist und können so im Einverständnis auseinander gehen, dass wir uns einfach das nächste Mal nicht auf die Usina verlassen dürfen. Dann hole ich mein Kleid ab (ich werde es in Ushuaia bereits einweihen) und gehe zurück zu Marion, um zu üben. Am Abend findet in der deutschen Botschaft eine von ihr organisierte Fundraising Party für das Museum für moderne Kunst statt. Ich darf mit ihrem Bruder hinfahren, mit dem ich mich über die vielen schönheitsoperierten Damen im Publikum amüsiere. Der Vortrag eines Architekten über europäische Einflüsse in der argentinischen Architektur ist sehr spannend, ich fahre jedoch schon früh zurück in die Wohnung, denn am nächsten Tag geht die Reise ja schon weiter...

10. Oktober
Und ab geht's in den Süden, nach Feuerland. Am Morgen früh fahre ich zur Residenz des Schweizer Botschafters, denn er ist auf dem selben Flug wie ich. Der Chauffeur fährt uns wohlbehalten zum Flughafen. In der Wartehalle bemerke ich viele Menschen mit Instrumenten. Natürlich spreche ich sie an und es sind die Orchestermitglieder des Orchester, mit welchem ich morgen zusammenspiele! Sie kommen aus Rio Blanco, einer Stadt, die ca. 700 km weiter südlich liegt, allerdings gibt es von dort aus keinen Flug nach Ushuaia und so mussten sie mit dem Bus die ganze Nacht durchfahren und fliegen jetzt im selben Flugzeug wie ich nach Ushuaia. Im Flugzeug werde ich von hinten angesprochen, da sitzt eine der Organisation des Festivals! Ihr kann ich auch gleich einige Fragen stellen.. und dann schlafe ich erstmals die vier Stunden Flug komplett durch. Als wir in Ushuaia ankommen, sieht man erstmals nichts: es regnet in Strömen und alles ist komplett bedeckt. Aber wie man mir erklärt, kann hier alles vorkommen, und zwar innerhalb einigen Stunden. Es kann regnen, schneien, die Sonne kann scheinen... Deshalb gibt es hier auch nicht eine wirkliche Wettervorhersage.. Man muss einfach immer auf alles gefasst sein. Ich bin im Hotel "Ushuaia" untergebracht, wie die Musiker auch. Das Festival findet in einem anderen Hotel statt, das "Arakur", das am Berg über der Stadt thront. Während ich Mittag esse und mich dann ein wenig ausruhe (während ich darauf warte, wann ich nun endlich üben kann), ändert sich der Ausblick und der Himmel reist auf, um mich mit offenem Mund am Fenster stehen zu lassen. Unglaublich. Eine Wildheit, Berge, die im Meer versinken, Wolken, Sonne, Berge, Schnee, Wasser...
Ausblick aus meinem Hotelzimmer
Am Nachmittag darf ich im Arakur üben. Der Besitzer ist ein Musikliebhaber, der beschlossen hat, in seinem Luxushotel/Spa/Ressort, einen Konzertsaal zu bauen und einen Steinway Konzertflügel zu kaufen (und einen Steinway B-Flügel für die Bar und einige Klaviere für hinter die Bühne). Der Konzertsaal liegt so, dass man aus den Panorama Fenstern auf den Beagle Kanal sieht und sich fühlt wie in einer anderen Welt... 
Ausblick aus dem Konzertsaal im "Arakur"

Hier treffe ich den Dirigenten, hier proben wir den Rachmaninow für die morgige Eröffnung. Der Dirigent ist der Mitbegründer des Festivals, ein anscheinend erfahrener Dirigent und ein unmöglicher Typ, wie ich bald merke. Leider muss ich während den Proben auch an seinen Dirigierfähigkeiten zweifeln - natürlich lasse ich aber nichts anmerken und tue genau das, was er sagt (oder versuche es, ich kann nicht "kammermusikalisch" spielen, wenn ich ein Solo habe, oder?). Ich bin außerordentlich froh, dass ich das Konzert schon gespielt habe und genau weiss, wer wann einsetzen muss, denn ich finde heraus, dass ich mich hier nur auf mich verlassen kann. Es gehört immer soviel Diplomatie zu diesem Beruf... trotzdem bin ich guter Dinge. Am Abend nach dem Nachtessen mit den Musikern, die ich sofort ins Herz schließe, treffe ich Gioia: Sie ist auch dabei in Ushuaia!

11. Oktober
Eröffnungskonzert in Ushuaia. Die Hauptprobe am Vormittag bestätigt meinen gestrigen Eindruck, aber ich freue mich riesig auf den Abend. Und er wird ein voller Erfolg. Der Saal ist übervoll (800 Personen), der Besitzer und die Organisatoren sitzen in der ersten Reihe, wie auch der Schweizer Botschafter mit seiner Frau. Jeglicher Versuch meinerseits, mit dem Dirigenten zu kommunizieren, schlagen fehl  - er sieht mich während des ganzen Konzertes kein einziges Mal an. Der erste Satz verläuft gut, der zweite wird richtig schön.  Im dritten Satz gibt der Maestro während meines Solos den Blasinstrumenten den Einsatz nicht - eine Schrecksekunde. ich spiele weiter und bete - der Konzertmeister reagiert und rettet uns alle. Gemerkt hat das kaum jemand, der das Konzert nicht kennt - eigentlich darf aber so etwas nicht passieren. Trotzdem bin ich nach dem Konzert höchst zufrieden - mit mir vor allem und mit dem begeisterungsfähigen Orchester. Denn für das Andere kann ich wirklich nichts dafür. Mir ist wichtig, dass ich das Konzert alleine einstudiert habe, dass ich genau wusste, was ich wollte und dass ich das auch geschafft habe. Und es wird nicht das letzte Mal sein, dass ich das Konzert spiele!
Rach2 im neuen grünen Kleid

Mit dem Besitzer des "Arakur"
Beim Nachtessen werde ich gefeiert vom Besitzer des Hotels, der mir am Buffet die Hand küsst, vom Botschafter und seiner Frau und vom Honorarkonsul der Schweiz hier in Ushuaia, seiner Frau und deren kleiner Tochter Larissa (die eigentlich schon schläft, schliesslich ist es fast Mitternacht, beim Dessert-Buffet jedoch wieder auflebt und danach kaum mehr zu stoppen ist...) und natürlich auch von Gioia. Erschöpft aber glücklich schlafe ich ein.

12. Oktober
Heute Vormittag haben wir Glück: Die Sonne scheint und es ist der einzige Tag, an dem ich einmischen die Umgebung genießen kann und Pablo, mein Freund aus Buenos Aires hat mir den besten Touristenführer, den es gibt, organisiert: seinen Schwager Marcelo, der hier wohnt! Und so werden Gioia und ich zum Nationalpark geführt, wir bewundern die Landschaften, Eis, Schnee, Wasser, Sonne, Berge - ein tolle Mischung... von der zweit-südlichsten Post der Welt (die südlichste liegt auf der Antarktis) verschicke ich eine Postkarte an meine Familie.
Die Post

Magellan Ente
Ibis


3079 km bis Buenos Aires, 17848 km bis Alaska....
Torf-Feld

Immer wieder treffen wir auch auf die Familie des Schweizer Botschafters - auch sie besichtigen den Nationalpark, allerdings nicht mit einem privaten Guide, sondern in einer Gruppe... Plötzlich zieht ein Schneesturm auf und innerhalb einer halben Stunde sieht man gar nichts mehr. Aber es ist ja auch schon Mittagessen-Zeit. Nach einer Siesta fahren wir mit Gioia zum Arakur, wo ich üben kann für das morgige Rezital. Beim Warten auf das Taxi zurück in unser Hotel bemerke ich, wie der Rezeptionist einem Gast auf Englisch das Festivalprogramm zeigt. Dieser zeigt sich interessiert und fragt, wie er an Tickets kommen kann, der Rezeptionist guckt mich fragend an und so unterhalte ich mich mit dem Herrn, der sich an dem Thema Schweiz noch mehr interessiert zeigt - meine Frage, woher er denn komme, beantwortet er mit "Schweiz" und ab da reden wir selbstverständlich schweizerdeutsch. Was für lustige Zufälle! Am Abend schlafe ich ruhig ein, obwohl es draußen weiter stürmt und schneit...

13. Oktober
Heute ist der Geburtstag meiner Mutter und das letzte Konzert der Reise. Der Schneesturm dauert an und die Reise zum Arakur hinauf dauert länger als sonst. Wer bei dem Wetter diese Reise auf sich nimmt, muss sich wirklich für das Konzert interessieren. Der Saal wird halb voll, was ein großes Kompliment ist. Was mich besonders freut ist, dass viele Orchestermitglieder gekommen sind (an ihrem einzigen freien Tag). DAS ist ein Kompliment!!! Die Beleuchtungstruppe experimentiert und zaubert ein wunderschönes rotes Ambiente. Es wird ein sehr stimmungsvolles Konzert. Draußen stürmt es, manchmal hört man, wie der Wind an den großen Fenstern vorbei pfeift. Drinnen erklingt Tschaikowski, Felder und Liszt. Hier passt "Memoir" wunderbar zu der Stimmung. Es ist das erste Mal, dass an diesem Festival überhaupt zeitgenössische Musik gespielt wird - das Publikum nimmt es wohlwollend auf. Auch die Schweizer Hotelgäste sind da. Und der Honorarkonsul der Schweiz. Als Zugabe spiele ich für meine Mutter den "Oktober" von Tschaikowski. Jetzt habe ich auch ein bisschen Heimweh....

Nach dem Konzert sind Gioia und ich eingeladen, mit der Organisationsgruppe des Festivals im Hotel Arakur (wieder dieses wunderbare Buffet) zu essen, was wir auch gerne annehmen. Wir setzen uns aber zum Nachtisch zum Schweizer Generalkonsul, der mit seiner Frau und mit einem Freund zusammen sitzt. Der wiederum ist, wie sich herausstellt, der Leiter des örtlichen Gefängnis-Museums. Er lädt uns ein, doch morgen Nachmittag vorbei zu schauen. Es wird spät, für mich war es ein toller Konzert-Abschluss der Reise. Aber noch ist es ja noch nicht ganz vorbei...

14. Oktober
Heute treffe ich die Kinder einer Schule, an der Musik im Vordergrund steht. Ich soll ihnen erzählen, wer ich bin, was ich mache, etc. Circa 60 Teenager schauen mich gespannt an. Ich fange an, mit ihnen zu plaudern, erzähle ihnen ein bisschen von meinem Leben, meinen Stationen, was es heißt, Pianistin zu sein, wie mein Tagesplan aussieht Zuhause, was ich hier in Ushuaia gemacht habe... Ich spiele ihnen auch ein paar Stücke vor auf der extra mitgebrachten Clavinova (klingt gar nicht schlecht!) und sie dürfen mir Fragen stellen. Die erste ist "Hast Du einen Freund",  meine Antwort "ja" reicht nicht, gleich wird nachgefragt: "Ist es der da?" und auf den hochrot werdenden Fotografen gezeigt. Ich muss laut lachen und erzähle in zwei Sätzen meine schöne Flugzeug-Kennenlern-Geschichte, von dem, der mich in Berlin erwartet - "wie romaaaaaantisch"!!!! Danach handeln die Fragen von Musik, wie viel übst du, wie lernst du auswendig, kannst du davon leben (ihr seht mich doch, also lebe ich), warum Chile, warum Russland, wie gefällt dir Ushuaia (sehr gut), kommst du wieder (sehr gerne), usw. Ich unterhalte mich auch noch mit den Lehrern, die mich fragen, wie man die jungen Leute mehr zum üben motivieren kann - es gibt wohl überall auf der Welt dieselben Probleme...



Zum Mittagessen gehen Gioia und ich mit Rosson, dem künstlerischen Leiter des Festivals in ein wunderschönes Kaffee im Städtchen. Es ist eines der ältesten Häuser hier und voll gestopft mit Erinnerungen an alte Zeiten. In der Ecke steht auch ein Klavier, das ich natürlich bespielen muss. Also erklingt der "Oktober" nochmals auf dem alten Bar-Piano... Die Gespräche mit Rosson, der übrigens der Solo-Hornist des Teatro Colon ist, sind hochinteressant - mal sehen, was sich daraus ergibt.
Klavier :-)
Am Nachmittag besichtigen wir das Gefängnis. Hierher wurden Mörder, Räuber und andere Banditen anfangs des 20. Jahrhunderts verbannt und mussten Zwangsarbeit leisten. In den Zellen des Gefängnisses sind heute die wichtigsten der Übeltäter lebensgross nach gebaut und sitzen da. Ihre Geschichte steht daneben... Wir treffen auch nochmals den Honorarkonsul, der zusammen mit Larissa, seinem Töchterchen hier ist. Diese liebt das Museum und rennt zusammen mit ihrem Stoffhasen durch die Gänge.
Gegen Abend werden wir zum Flughafen gebracht - alles scheint zu klappen, doch da, Lautsprecherdurchsage, das Flugzeug hat technische Probleme, wir müssen bis morgen hier bleiben. Ich renne mal wieder zum Schalter und dank meiner Schnelligkeit (und Skrupellosigkeit) ergattern  Gioia und ich einen Platz im "guten" Hotel. Wir werden also dahin verfrachtet, kriegen noch einen Teller Pasta vorgesetzt und schlafen dann ein... Kein Glück mit Flugzeugen scheint die Devise zu sein, nur, bei mir ist es nicht so schlimm, ich hatte den morgigen Tag als Ausruhe-Reservetag eingeplant, nur eben in Buenos Aires, nicht in Ushuaia....

15. Oktober
Es gibt Schlimmeres, als plötzlich an einem Tag nur spazieren zu können am Beagle Kanal mit freier Sicht auf alle Berge rundherum, oder? Genau das tun wir mit Gioia. Wir beobachten kleine Vögelchen und sitzen einfach da auf einem Baumstrunk und geniessen diese absolute Ruhe. Am Mittag geht es dann los.



Panorama vom Beagle Kanal


Nun klappt wirklich alles und gegen Abend sind wir wieder in Buenos Aires, das uns jetzt wie tropisch vorkommt nach den winterlichen Temperaturen im Süden. Nun heisst es Abschied nehmen von Gioia, die mich auf dieser Reise wieder grossartig unterstützt hat - der ich die Organisation dieserReise überhaupt zur verdanken habe...
Marion freut sich, dass ich nun zurück bin und wir essen gemeinsam am Abend mit ihrem Partner Ricardo und ich erzähle ihnen vom Festival. Dann packe ich.

16. Oktober
Abreise. Nun ist die Reise vorbei und ich steige ins Flugzeug nach Berlin über London. Alles klappt, nicht mal Verspätung haben wir. Ich fasse nochmals zusammen, was diese Reise für mich bedeutet, ich erinnere mich nochmals an alle Konzerte, Masterclasses, Begegnungen. Wie reichhaltig waren diese fünf Wochen, wie intensiv! 34'710 km habe ich zurückgelegt, mehr als 10'000 davon innerhalb Südamerikas, 10 Auftritte innerhalb 27 Tage,...

Ich bin unendlich dankbar für die Erinnerungen, die ich ab sofort in meiner Erinnerungsbox mitnehme, die ab sofort zu mir dazu gehören. Landschaften, Inspiration von Natur und Menschen, das Wiedersehen mit so vielen lieben Leuten, das Kennenlernen von neuen Freunden...Was für einen tollen Beruf habe ich doch... Und nun plane ich schon, wie es im nächsten Jahr aussieht - voraussichtlich April/Mai... Das Reisefieber nimmt nicht ab....

Das Nachhausekommen in Berlin ich aber auch wunderschön. Wenn man nicht geht, kann man nicht wiederkommen - das kann man ja immer auf alle Seiten interpretieren.

Ich freue mich auf die nächste Reise und bin gespannt auf Eure Feedbacks!


Bis zum nächsten Mal!